Inhalt
2019/2020. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Das jüdische Mädchen Anne Frank würde ihren 90. Geburtstag feiern. Unsere Zeit ist noch immer – oder wieder? – geprägt durch viel Intoleranz. Die Zur-Schau-Stellung von rechtem Gedankengut scheint wieder salonfähig zu sein. Deshalb ist es dem Berliner Mädchenchor wichtig, sich in der Chorarbeit auch mit Stücken zu beschäftigen, die nicht nur musikalisch anspruchsvoll sind, sondern auch eine klare politische Aussage zu Toleranz und Selbstbestimmung enthalten.
Worum es geht
Im Mittelpunkt des Projekts »STIMMENÜBERLEBEN« steht das siebensätzige Werk »Anne Frank: A Living Voice« der US-amerikanischen Komponistin Linda Tutas Haugen, das auf Textstellen aus dem Tagebuch der Anne Frank basiert. Haugens Komposition an die Seite gestellt wurden zwei Stücke, die ebenfalls Träume und Hoffnungen junger Menschen thematisieren oder Zuversicht vermitteln: Das eine ist »Wiegala«, ein Wiegenlied von Ilse Weber, das diese in Theresienstadt für die dort inhaftierten Kinder schrieb und zum letzten Mal gesungen haben soll, als sie in Auschwitz mit ihrem Sohn in die Gaskammer ging, um ihm und den anderen mit ihnen gehenden Kindern auf ihrem letzten Weg Mut zu machen. Das andere trägt den Titel »We Are The Voices« und stammt von dem US-amerikanischen Komponisten Jim Papoulis. Über die Entstehung des Stücks schreibt er: »Text und Musik entstanden in einem Songwriting-Workshop […]. Ich fragte die Sänger:innen, worüber sie singen wollten und der überwältigende Wunsch war, ihren inneren Stimmen Gehör zu verschaffen – inneres Feuer, Sanftmut, Kraft und Gefühl zum Ausdruck zu bringen.«
Vom Konzert zum Film
Erste Ideen zu dem Konzert gab es im Herbst 2019. Kelley Marie Sundin, Chorleiterin im Berliner Mädchenchor, regte an, das Werk von Linda Tutas Haugen zu erarbeiten. Geplant war eine klassische Aufführung in der Parochialkirche in Berlin-Mitte, an dem der Juniorchor (Aufbauchor und Kleiner Konzertchor), der Konzertchor und das Vokalconsort des Berliner Mädchenchores mitwirken sollten – insgesamt rund 120 kleine und große Sängerinnen. Die Chöre hatten gerade mit den Proben dafür begonnen, als der erste coronabedingte Lockdown gemeinsame Chorproben unmöglich machte und zu Online-Proben allein oder in ganz kleinen Gruppen zwang.
Die Sängerinnen waren eingesperrt wie damals Anne Frank, nur nicht so lebensbedrohlich. Aber die Corona-Maßnahmen belasteten die Mädchen psychisch und physisch. Niemand wusste, ob das für September geplante Konzert stattfinden dürfte und unter welchen Bedingungen.
Bei einem Treffen der Chorleiterin Sabine Wüsthoff mit der Regisseurin Ulrike Ruf im Juni 2020 beschlossen die beiden Frauen, vorsorglich einen Plan B zu entwickeln. Die Filmidee war geboren. Wie richtig diese Entscheidung war, zeigte sich nach den Sommerferien. Sehr bald schon war klar, dass ein Konzert vor großem Publikum in einem geschlossenen Raum nicht erlaubt sein würde. Durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen musste das Projekt vollkommen umgedacht werden.
Es durfte vorübergehend zwar wieder gemeinsam gesungen werden, aber nur mit Abstand und möglichst draußen. So wurden die wöchentlichen Chorproben auf das Parkdeck an der Silberlaube der Freien Universität Berlin verlegt. Nunmehr arbeiteten ca. 60 Mädchen und junge Frauen aus dem Konzertchor und dem Vokalconsort des Berliner Mädchenchores an der Einstudierung der Stücke mit dem Ziel einer filmischen Umsetzung, an deren Gestaltung die Sängerinnen partizipativ mitwirkten. Der Juniorchor konnte unter diesen Umständen leider nicht mehr einbezogen werden.
Das Ergebnis
Der so entstandene Musikfilm der Filmerin und Medienanthropologin Christina Voigt und der Musikerin und Regisseurin Ulrike Ruf sowie der Chorleiterin Sabine Wüsthoff setzt sich auf sehr persönliche Art und Weise mit den jungen Sängerinnen, ihrer Beschäftigung mit Anne Frank und dem musikalischen Werk von Linda Tutas Haugen auseinander.
Er eröffnet ein Spannungsfeld zwischen dem schier unmöglichen Versuch, die Monstrosität des Holocausts, das Schicksal der Juden zu fassen, für das Anne Frank wie keine andere steht. Demgegenüber steht der Alltag des jungen Mädchens im Hinterhausversteck, das die normalen Sorgen und Nöte, Träume und Sehnsüchte einer Fünfzehnjährigen erlebt.
An diese »Normalität« knüpfen die jungen Sängerinnen des Berliner Mädchenchores mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont an – wie zum Beispiel mit Kritik an ihrem erwachsenen Umfeld, mit ihrem erblühenden Wirkungsbewusstsein, mit der Reflektion ihres Innenlebens, …
Es zeigt sich, dass Anne Frank auch ein Mädchen »wie du und ich« war und dass ihr Sosein als Pubertierende, ihre Gedanken, Wünsche und Zukunftspläne immer noch aktuell sind. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine Identifikation mit dem jüdischen Mädchen aus heutiger Sicht nur bis zu dem Punkt möglich ist, an dem das Tagebuch abreißt und ihr tragisches Ende beginnt. Anders als die Mädchen heute hatte Anne keine Zukunft.